Die Wahlverwandtschaften

DDR 1973/1974 Spielfilm

Die Wahlverwandtschaften


Rosemarie Rehahn, Wochenpost, Berlin/DDR, 6.9.1974


Ein kühner Versuch, dieser Kühnsche Versuch, "Die Wahlverwandtschaften" ins Kino zu bringen. Kühn im Vertrauen auf Goethe, auf das Ewig-Moderne seines klassischen Liebes- und Eheromans, kühn im Vertrauen auf ein Publikum, das bereit ist, teilzunehmen an Herzensangelegenheiten, die 170 Jahre zurückliegen und Leute der gehobenen Stände betreffen, die da auf abgelegnem Landsitz mit sich und ihrem Anwesen beschäftigt sind.

Ich bin ziemlich sicher, daß ich mich ohne das Erscheinen des Films mit den "Wahlverwandtschaften", halbverdautem Bildungserlebnis der Jugend, frühestens im Rentenalter näher befaßt hätte, und möchte den Filmschöpfern freundlich danken. die solchen Aufschub verhinderten. Es lohnt schon, diese Liebes- und Ehegeschichte kennenzulernen. Nicht nur, um zu staunen, daß so etwas zu längst vergangner Zeit geschrieben werden konnte, fast hundert Jahre vor Fontanes "Effie Briest", zu staunen vielmehr. wie jung es geblieben ist, wie gegenwärtig der alte Herr von Goethe seine Fragen stellt nach dem Glück des einzelnen, nach Selbstverwirklichung oder Selbstbescheidung, nach neuen freien Formen menschlichen Zusammenlebens und den damit entstehenden neuen Verantwortlichkeiten und neuen Kompliziertheiten. (…)

Der Dichter Goethe, seit je tief mit der Natur verbunden, ihrer Schönheit, ihren Geheimnissen nachspürend, vergleicht diesen Aufbruch der Gefühle mit einem Vorgang, den die Chemie als das Gesetz der Wahlverwandtschaften entdeckt hat. Eine feste Verbindung löst sich auf, wenn neue Elemente hinzutreten. die dank stärkerer Anziehungskraft diesen oder jenen Teil abziehen, um mit ihm eine neue Verbindung einzugehen. Die. neuen Verbindungen heißen Eduard und Ottilie, Charlotte und der Hauptmann. Es sind Verbindungen im Geiste, in der Sehnsucht. Was so einfach scheint, ist doch so schwer, ist unerreichbar für die vier Menschen, endet mit Entsagung und Tod. Warum? Frage, die auch den Film beschäftigt.


Sie sind liebenswerte Leute, jeder auf seine Art: die sensible, kluge. tätige Charlotte, der vitale, impulsive Eduard, der zielstrebige, beherrschte Hauptmann. Mit feinem Schauspielergespür bringt Regisseur Siegfried Kühn Beata Tyszkiewicz, Hilmar Thate, Gerry Wolff ins Spiel, ein glänzend abgestimmtes Trio, in dem jeder dem anderen Echo gibt. (…)

Buch- und Filmeindruck vergleichend, meine ich, daß der gedankenschwere Film einiges von den erregenden psychischen Bewegungen, von der Faszination der Liebes- und Ehegeschichte schuldig bleibt, von der "zarten und unerbittlichen Kenntnis des Menschenherzens", die Thomas Mann an den "Wahlverwandtschaften" rühmt. Natürlich – die fehlbesetzte Ottilie, da reißt das emotionale Gewebe des Films. Es reißt auch in der entscheidenden Nacht der Verwirrung, wo es nicht gelingt, den Zuschauer in das Geheimnis der Gefühle einzuweihen, ihn hineinzuziehen in das phantastische Sehnsuchtsspiel, bei dem die Gatten in ehelicher Umarmung die Ehe brechen, Charlotte dem Hauptmann, Eduard Ottilien gehört.

Es ist ein sehr genau strukturierter Film, mit Geschmack und Takt gemacht, etwas überanstrengt im Stilwillen, – nicht angestrengt genug im Willen, das Publikum zu erreichen. Viele schöne Totalen, ausgestattet mit dem Reiz alter Gemälde, mit einer Farbkultur gedreht, die wir schon fast vergessen hatten (Kamera Claus Neumann). Staunenswert, wie gekonnt sich der Dialog auf die Sprache Goethes einläßt. (Szenarium Regine Kühn).

Kein Film, in den man so mal gerade um die Ecke reingeht. Aber zu guter Stunde sollte man"s tun und am freien Wochenende dann – das Buch zum Film.

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