Berlinale 2017: "The Wound" eröffnet Panorama-Hauptprogramm

Im "Panorama" wurden die ersten elf Filme des gesamten Programms von circa 50 Titeln eingeladen, etwa ein Drittel davon für "Panorama Dokumente".

Bereits jetzt lassen sich zwei Themen ausmachen: Ein frischer historisch-reflexiver Ansatz auf die Geschichte der Schwarzen in Nordamerika, Südamerika und Afrika ("I Am Not Your Negro", "Vazante", "The Wound") und "Europa Europa": Wie wehren sich die progressiven Kräfte angesichts eines Zeitgeistes, der wie von gestern erscheint ("Política, manual de instrucciones", "Combat au bout de la nuit")?

Weitere hochsensible und hoch künstlerische Werke sind eingeladen, für das gesamte Programm ist eine formal und inhaltlich hohe Diversität zu erwarten - ebenso in Bezug auf seltene Herkunftsländer wie Bhutan oder Kirgisistan.

Im Fokus: Ermächtigung der schwarzen Geschichte

"Vazante"
Brasilien / Portugal
Von Daniela Thomas
Mit Adriano Carvalho, Luana Nastas, Juliana Carneiro da Cunha, Sandra Corveloni, Roberto Audio
Weltpremiere
Daniela Thomas, Co-Regisseurin vieler Produktionen mit Walter Salles, zeigt ihren ersten Film in Eigenregie. Brasilien ist das letzte Land, das erst 1888 offiziell das historische Sklaventum abschaffte. Die Filmerzählung (Co-Autor ist Beto Amaral) spielt 1821, ein Jahr vor der Unabhängigkeit von Portugal. Der Reichtum, der aus dem Lande geschafft wird, besteht aus den Edelsteinen der Minen von Minas Gerais. Geborgen werden die Werte von Sklaven, an deren Leiden heute kaum noch etwas erinnert - dabei bildet diese Zeit die Basis des heutigen Brasilien, das sich von der Ungeheuerlichkeit der Ereignisse noch nicht erholt hat.

"I Am Not Your Negro"
Frankreich / USA / Belgien / Schweiz
Von Raoul Peck
Gesprochen von Samuel L. Jackson
Europapremiere
Ein geschätzter Gast auf der Berlinale ist auch Raoul Peck. Mit I Am Not Your Negro schafft er eine längst fällige Reflexion über den großen US-Autor James Baldwin und dessen politischen Kampf gegen den Rassismus, der in der Sklaverei wurzelt. Der schwarze Blick, die schwarze Geschichtsschreibung sind noch nicht im Mainstream-Bewusstsein verankert. Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben, und zu denen gehörten die Schwarzen nie, weder die Afrikaner noch die Afroamerikaner. Mit James Baldwin betritt ein sprachgewaltiger Intellektueller die Bühne und setzt Marken, die heute so unverbraucht notwendig zu erkennen sind wie vor 50 Jahren. Mit I Am Not Your Negro und Le jeune Karl Marx im Berlinale Special ist Raoul Peck mit gleich zwei Filmen auf der Berlinale vertreten.

"The Wound"
Südafrika / Deutschland / Niederlande / Frankreich
Von John Trengove
Mit Nakhane Touré, Bongile Mantsai, Niza Jay Ncoyini
Europapremiere
Der Eröffnungsfilm des diesjährigen Panorama-Hauptprogramms kommt aus Südafrika. Wie Männlichkeit hergestellt wird ist ein durchgängiges Aufmerksamkeitsthema im Panorama. Hier werden wir Zeugen der Initiationsriten eines afrikanischen Stammes im Gebiet der Südafrikanischen Republik. Tradition und Moderne prallen aufeinander, wenn ein urbanisierter Geschäftsmann aus Johannesburg beschliesst, seinen 17-jährigen Sohn der Beschneidungszeremonie seines früheren Stammes auszusetzen. Produzent Elias Ribeiro begeisterte bereits im Panorama 2015 mit Necktie Youth.

Europa Europa

"Política, manual de instrucciones" ("Politics, instructions manual")
Spanien
Von Fernando León de Aranoa
Europapremiere
Der Spielfilmregisseur Fernando León de Aranoa, mehrfach zu Gast im Panorama, erlaubt uns einen detaillierten Blick auf die Situation in Spanien. Der mediale Lärm um Syrien, Trump und andere Erdbeben verschleiert die Wahrnehmung der Grundfeste unserer Zukunft: Politik in Europa. Wir erinnern uns an den Aufbruch in der BRD, als sich die Grünen gründeten: So entstand auch Podemos und ist nicht mehr zu marginalisieren, selbst wenn dies die alten Kräfte dank eines unaufgearbeiteten Faschismus gerade wieder in Angriff nehmen. Eine geschichtsverdrängte Situation, die wie eine Zeitbombe in vielen Ländern der Erde tickt. Der erschreckende Zeitgeist erfordert den mutigen Auftritt derer, die sich nicht hinter die Ziellinien der jüngeren Vergangenheit abdrängen lassen wollen.

"Combat au bout de la nuit" ("Fighting Through the Night")
Kanada
Von Sylvain L’Espérance
Internationale Premiere
Der knapp fünfstündige Dokumentar-Essay führt uns direkt ins Herz der europäischen Misere: nach Athen. Im griechischen Parlament werden vor leeren Rängen endlos viele Artikel verabschiedet. Die Hafenlandschaft zieht an uns vorbei, mit ihren endlosen Verwaltungsgebäuden, die bald in die Hände außereuropäischer Geldgeber fallen werden. Dann sind wir mittendrin in der Besetzung des Finanzamtes durch die Putzkräfte - eine Langzeitbeobachtung über 28 Tage, die Raum gibt für einfühlsame Begegnungen mit den marginalisierten Playern der Krise. Das Vakuum, das die technokratische Politik hinterlassen hat, wird von den neuen Faschisten mit der Geste des Sich-Kümmerns um die Vergessenen gefüllt - ein sich in allen Ländern Europas und darüber hinaus wiederholendes Szenario.

"Casting JonBenet"
USA
Von Kitty Green
Internationale Premiere
Produziert von James Schamus und Scott Macaulay ist dieser hochintelligente Versuch einer Aufstellung um den nie geklärten, gewaltsamen Tod der sechsjährigen "Schönheitskönigin" JonBenet Ramsey. Was als Feier der amerikanischen Traumfamilie gedacht war, wurde vor 20 Jahren zum Alptraum des so allmächtigen Kleinbürgertums.

"Honeygiver Among the Dogs"
Bhutan
Von Dechen Roder
Mit Jamyang Jamtsho Wangchuk, Sonam Tashi Choden
Europapremiere
Das Debüt der Regisseurin, die bereits 2015 mit einem Kurzfilm auf der Berlinale vertreten war, ist ein veritabler buddhistischer Film Noir. Atmosphärisch dichtes Kino, aufgeladen von der Dynamik zwischen Spannung und Ruhe, Glaube und Moral.

"Centaur"
Kirgisistan / Frankreich / Deutschland / Niederlande
Von Aktan Arym Kubat
Mit Nuraly Tursunkojoev, Zarema Asanalieva, Aktan Arym Kubat
Weltpremiere
Wie mit der Stimme aus einem anderen Jahrhundert und mit dem populären Appeal eines Märchens erzählt der Film uns von der Sage der metaphysischen Verbindung von Mensch und Pferd und wie jene schließlich zu Flügeln des Menschen wurden.

"Pendular"
Brasilien / Argentinien / Frankreich
Von Julia Murat
Mit Raquel Karro, Rodrigo Bolzan
Weltpremiere
Eine Entdeckung ist die junge Regisseurin Julia Murat. Hier erforscht sie die Beziehung einer Tanzkünstlerin und eines Bildhauers mit den Mitteln derer Künste. Eine philosophisch-originäre Genderbetrachtung der jungen Bohème am Anfang der Mitte des Lebens.

"Ri Chang Dui Hua" ("Small Talk")
Taiwan
Von Hui-chen Huang
Internationale Premiere
Eine Familiengeschichte besonderer Art, produziert von Hou Hsiao-hsien. Die Mutter verdient den Lebensunterhalt als Seelenbegleiterin bei Beerdigungen: Nie war sie zuhause, immer mit ihren Freundinnen unterwegs. Die Tochter versucht nun in einer Großanstrengung, die Mutter zu verstehen. Ein Kosmos tut sich auf, der gesamtkulturell bedeutsam und extrem intim gleichzeitig ist.

"Untitled"
Österreich / Deutschland
Von Michael Glawogger, Monika Willi
Weltpremiere
"Dieser Film soll ein Bild der Welt entstehen lassen, wie es nur gemacht werden kann, wenn man keinem Thema nachgeht, keine Wertung sucht und kein Ziel verfolgt. Wenn man sich von nichts treiben lässt außer der eigenen Neugier und Intuition." - Der Regisseur Michael Glawogger verstarb 2014 während der Dreharbeiten. Seine Cutterin Monika Willi realisierte einen faszinierenden Film aus dem Material, das während der vier Monate und 19 Tage dauernden Reise durch den Balkan, Italien, Nordwest- und Westafrika entstanden ist - einer Reise, um zu beobachten, zuzuhören und zu erleben, mit aufmerksamen Augen, mutig und roh.

Quelle: www.berlinale.de