Tir na nog

Deutschland 1994 Dokumentarfilm

Kommentare

Sie haben diesen Film gesehen? Dann freuen wir uns auf Ihren Beitrag!

Heinz17herne
Heinz17herne
Der Berliner Dokfilmer Jörg Foth, der im Wendejahr 1990 mit „Biologie!“ den ersten Umwelt-Spielfilm der bereits dem Untergang geweihten Defa drehte, begab sich in der winterlichen Kälte an Weihnachten 1993 und ein zweites Mal im verregneten April 1994 auf die Spuren deutscher Auswanderer in den unwirtlichen Nordwesten Irlands. Es waren in der Mehrzahl heute „Alt-Achtundsechziger“ genannte einstige jugendbewegte „Gammler“ und Hippies, Mitglieder unorthodoxer linker Zirkel, aber auch des immer stalinistischer werdenden Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW), die sich im eskalierenden Kalten Krieg der 1980er Jahre entschlossen, ihre Utopie von einem freien, selbstbestimmten Leben auf der Grünen Insel zu verwirklichen. Portugal wäre auch eine Alternative gewesen, wettermäßig sicherlich die attraktivere.

Aber Irland punktete bei den insgesamt 20.000 Deutschen mit deutlichem Abstand durch Steuerfreiheit in den ersten fünf Jahren, durch aufgeschlossene, freundliche Mitarbeiter in den Behörden und eine ausnahmslos hilfsbereite Nachbarschaft. Die wie der Staat an der Wiederbelebung verlassener Farmen im County Sligo, eine der am dünnsten besiedelten Landschaften Irlands, interessiert waren. Sligeach, so der gälische Name, ist aber auch eine sehr geschichtsträchtige Region: Rund um den Tafelberg Ben Bulben, zu dessen Füßen der von Jörg Foth mehrfach zitierte Dichter William Butler Yeats begraben liegt, finden sich zahllose megalithische Zeugnisse.

„Die Gesichter und Hände der deutschen Farmer erzählen vom härteren Glück irdischer Verbundenheit und ununterbrochener Herausforderung durch andauernde, schwere körperliche Arbeit, durch maritime Natur und jedes Element“, so Foth anlässlich der Uraufführung seiner 92-minütigen essayistischen Dokumentation am 10. Dezember 1994 bei der Filmschau Frankfurt/Main. Zusammen mit seinem Lieblings-Kameramann Thomas Plenert hat er sich auf den Alltag dreier miteinander befreundeter, aber zwei Autostunden voneinander entfernt lebender Familien konzentriert.

„Sie kommen, sich zu ändern“ lautet einer der von Anke Feuchtenberger mit Anklängen an die keltische Mythologie kunstvoll gestalteten Zwischentitel. Claudia aus dem West-Harz und Volkmar aus der einstigen DDR-Hauptstadt wollen der grassierenden Abwanderung junger Iren nicht nur die eigene Landwirtschaft mit Kühen, Schafen und Geflügel entgegensetzen, sondern mit Zuschüssen der Europäischen Gemeinschaft auch vier Hektar Wald pflanzen: Eichen vor allem, aber auch Eschen und Ahornbäume. Handwerkliche Fähigkeiten sind gefragt, Berufsschulbücher aus der Karl-Marx-Buchhandlung in der gleichnamigen Ost-Berliner Allee helfen.

Hilde, der man ihre Pfälzer Heimat sogleich anhört, mahlt den Bohnenkaffee mit der Hand. Sie hat als erstes Gälisch gelernt, die entscheidende Voraussetzung für ihren Beruf als Deutschlehrerin. Sie kümmert sich überdies um schwer erziehbare Jugendliche aus Problemfamilien. Ihr handwerklich geschickter Mann hat nicht nur eine kleine Schuhmanufaktur aufgebaut, sondern auch den voluminösen Plattenspieler konstruiert, auf dem sich gerade eine Jimi Hendrix-Scheibe dreht. Auch nach zehn Jahren können ihre gerade zu Besuch weilenden Eltern nicht verstehen, warum ihre Tochter an den Rand der oft eisigen Ox Mountains gezogen ist.

„Im Kopf ist immer noch Revolution, nur anders“: Der einst im KBW engagierte Hans Walter, der vor der Bücherwand in der Wohnstube sein Schlagzeug aufgebaut hat, und Gaby sind nun Milchbauern mit eigener Käserei. Die Etiketten offenbaren, dass ihre Waren nicht nur auf der Insel, sondern auch in Deutschland verkauft werden. Ohne eigentlichen Kinostart schlummerte die 16-mm-Kopie des Films „Tir na nOg“ ein Vierteljahrhundert in der Deutschen Kinemathek, bevor es am 22. Juli 2020 im Berliner Kino Krokodil zur Wiederaufführung in Anwesenheit Jörg Foths kam. Der auch zu dieser Ausgrabung passende Titel bezieht sich auf das mythische altirische „Land der ewigen Jugend“, das nur durch eine beschwerliche Reise oder eine Einladung von einem seiner Bewohner erreicht werden konnte. Von Anke Feuchtenberger stammt auch das ungewöhnliche Plakatmotiv einer nackten Frau mit weit geöffneter Vagina: Sheela-na-Gig, von den Kelten als „Urmutter der Völker“ verehrt.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
1011 m, 92 min
Format:
16mm
Bild/Ton:
Farbe, Ton
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 02.01.1995, 72541-S, ab 6 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (DE): 10.12.1994, Frankfurt am Main, Filmschau

Titel

  • Originaltitel (DE) Tir na nog

Fassungen

Original

Länge:
1011 m, 92 min
Format:
16mm
Bild/Ton:
Farbe, Ton
Prüfung/Zensur:

FSK-Prüfung (DE): 02.01.1995, 72541-S, ab 6 Jahre / feiertagsfrei

Aufführung:

Uraufführung (DE): 10.12.1994, Frankfurt am Main, Filmschau