Charms Zwischenfälle

Österreich 1995/1996 Spielfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Michael Kreihsl überträgt Daniil Charms Szenenfolge „Fälle/Fallen“ ins Österreichische – und verlegt die Handlung nach Wien. Johannes Silberschneider verkörpert, und das wirklich grandios, den mittellosen Schriftsteller Juvacev, der in einem kargen Zimmer haust mit Zeitungen statt Tapeten an den Wänden und der sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt. Das alter ego des russischen Schriftstellers Daniil Charms, der im bürgerlichen Leben tatsächlich Daniil Ivanovic Juvacev hieß, als eine Hinterhof-Existenz mit einem ganzen Panoptikum von Leidensgenossen, darunter ein Volksschullehrer und dessen nymphomanische Gattin, eine eingebürgerte k.u.k.-Ungarin und ein junges Pärchen.

In sparsamen, lakonischen Bildern wird eine Außenseiter-Gesellschaft eingefangen, die nur auf den ersten Blick in ihrer Absurdität exotisch-balkanisch wirkt: der kahlköpfige Hausmeister, der den Hof stets im Bademantel bekleidet fegt, der Obdachlose, der stets im Treppenhaus herumlungert, die beiden Alten, die auf Kissen gestützt ständig aus dem Fenster in besagten Hof schauen, die Kinder, die der Tristesse mit allerhand Schabernack begegnen oder eben besagter Schriftsteller, der zwar einen Haufen Papierbögen mit grüner Tinte vollschreibt, mit ihnen aber offenbar keine Einnahmen erzielt.

Beim Anstehen nach billigem Brot trifft Juvacev auf Maria (Ela Piplitz), eine junge Frau, die ebenfalls künstlerisch-kreative Ambitionen pflegt als Mitglied einer Amateurbühne. Zwischen Tag und Traum entwickelt sich zwischen beiden ein zartes, von Missverständnissen und äußeren Misshelligkeiten gestörtes Liebesverhältnis. Wie der Titel des Films bereits impliziert, sind es die „Zwischenfälle“ des Daniil Charms, die statt einer geschlossenen Handlung, einer traditionell erzählten Geschichte, eine mögliche eigentliche Handlung nur andeuten.

Ein brennender Hut, ein berstender Wasserkessel, ein „verrückter“ Gasherd – stets vermischen sich überfallartig Fiktion und Realität. Das ist zunächst ganz spannend, weil man geradezu darauf wartet, dass sich ein neuer surrealer „Zwischenfall“ ereignet und den narrativen Fluss zum Stocken bringt. Aber der Effekt verpufft bald bei aus dem Fenster fallenden Frauen oder einem Probanden, der nach der Einnahme einer Tablette von einen Lachkrampf geschüttelt in den Armen der Ärztin stirbt.

Michael Kreihsl kann die zentralen Teile der Vorlage, die sich mit dem Polizeistaat Russland/Sowjetunion, mit der Biographie des 1905 geborenen und 1942, während der Belagerung Leningrads, in sowjetischer Haft ums Leben gekommenen Sankt Petersburgers Daniil Charms befassen, die sozusagen die Kehrseite der Medaille „Surreales im Alltag“ bilden, nicht einfach auf Österreich, auf Wiener Verhältnisse übertragen.

Wenn der Schriftsteller oder der Lehrer vorgeladen werden, mögen die Beamten auch österreichische Uniformen tragen und in der schweren Ostblock-Limousine Tatra vorfahren, geht es um konkret sowjetische Verhältnisse, geht es um die Autobiographie von Daniil Charms. Und die haben mit der Österreichischen Republik Mitte der Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts nichts zu tun.

Dieser Spagat musste Michael Kreihsl, der vier Jahre zuvor am Wiener Burgtheater Charms' „Theaterfallen“ inszeniert hatte, misslingen in seiner neunzigminütigen Charms-Hommage, die immerhin das Surreale des Alltags, das Absurde des Daseins und damit das Kafkaeske im Leben des Schriftstellers Charms mit bemerkenswerten Einstellungen auf neuartige Weise zum Ausdruck bringt. Und durch hervorragende Schauspieler verkörpern lässt, darunter Johann Adam Oest, Michael Haneke, Wolfgang Hübsch, Elzbieta Czyzewska, Ulrich Reinthaller und, als Erzähler, Ulrich Tukur.

„Charms Zwischenfälle“ wurde am 17. Februar 1996 im Internationalen Forum des Jungen Films auf der Berlinale uraufgeführt und mit dem Caligari-Filmpreis ausgezeichnet.

Pitt Herrmann

Credits

Alle Credits

Länge:
88 min
Format:
Super16mm – Blow-Up 35mm, 1:1,66
Bild/Ton:
Farbe, Dolby
Aufführung:

Uraufführung (DE): 17.02.1996, Berlin, IFF - Forum

Titel

  • Originaltitel (AT) Charms Zwischenfälle

Fassungen

Original

Länge:
88 min
Format:
Super16mm – Blow-Up 35mm, 1:1,66
Bild/Ton:
Farbe, Dolby
Aufführung:

Uraufführung (DE): 17.02.1996, Berlin, IFF - Forum