Berlin Alexanderplatz (14 Teile)

BR Deutschland 1979/1980 TV-Spielfilm

Hölle & Söhne

Fassbinders Serie "Berlin Alexanderplatz" an einem Stück: Die Gewalt des Ganzen



Karsten Witte, Frankfurter Rundschau, 18.10.1983

Die ersten, die Einlaß begehrten, waren Reporter, die sich wie Zollbeamte aufführten und von den Zuschauern sich die gefüllten Picknick-Körbe zeigen ließen, als sei die Ausrüstung zu einer Kino-Expedition so bemerkenswert wie die zu einer Gipfelbesteigung in Nepal. Und diese Vorführung, die Fassbinders Fernseh-Serie "Berlin Alexanderplatz" in vierzehn Folgen zu einem Film und: einem Film koppelte, wurde denn auch eine riskante Reise, vielleicht ans Ende der Nacht, bestimmt aber zur Mitte des folgenden Tages.

"Halten Sie durch? Ist Fassbinder diese Tortur wert? Würden Sie wiederkommen?" fragten die Herrschaften mit Mikrofon das Publikum ab, das erstaunt war ob der suggerierten Abwertung seines so augenscheinlichen Interesses und Durchhaltevermögens. Über Nacht war das TAT zum Idealkino geworden. Man erinnere sich: Dort begann einmal das Kommunale Kino, und zu manchen Filmen drückte man die Saaltür ein. Jetzt dienten dort Liegestühle der entspannten wie distanzierten Wahrnehmung, eine ordentlich abkaschierte Leinwand der sauberen Projektion, eine erstklassige Tonanlage der raffinierten Mischung auf Fassbinders Tonspur. Üblich ist, daß Kinos ihre Filme wie Digitalschallplatten einpacken, um sie in Wirklichkeit mit einer alten 78er Nadel abzutasten. Hier verschmolz der Film einmal mit seinem Medium Kino. Das war die Pionierleistung, nach der kein Berichterstatter fragte. Diese Leistung ist möglich und wiederholbar, scheinbar am fachfremden Ort "Theater", das seine Verwandlungskunst noch übt, wo das Kino sich höchstens in Reproduktion seiner Selbstverschrottung übt.

Der gezeigte Film paßt nicht zufällig in diesen Rahmen. Er gibt eine Ahnung vom Ende des Kinos, indem er dem Fernsehen in Form der Serie vormachte, was Kino sein könnte, eine epische Form, nun von prosaischer Kleinform verschlungen. Die vergangene Reise im TAT war auch ein Versuch, einen Zusammenhang herzustellen, der sich der zumutbaren Portionierung für eine lange Nacht entzog, einzig um das Ganze des Films einmal als Zumutung vorzustellen: was es in Wahrheit ist.

"Berlin Alexanderplatz" ist in Fassbinders Vision ein Ort, an dem alle Mythen zusammenfließen, denen zwischen Lorelei und Neuschwanstein keine Nische reserviert ist. Sein Ort ist, ein Umschlagplatz, der Tragik in Pech, Romantik in zärtliche Gewalt und Bewußtsein in asynchrone Gefühle verwandelt. Sein Regisseur ist wie der Held: Transportarbeiter. Wie einer wie Franz Biberkopf an die Schmerzgrenze seiner Wünsche gerät, das sei das Aktuelle an dem Film, sagte im Pausengespräch ein Schüler, dem 1980 die Fernsehausstrahlung zu Haus zu sehen verboten wurde. Auch das erzählt etwas über den sozialen Ort des Kinos. Man muß die Welt sehen können und mit den Füßen zu ihr hingehen, sagte Döblin in seinem Roman "Berlin Alexanderplatz".

In eins gesehen entfaltet Fassbinders Film die Architektur der Landschaft des Leidens, in der sich Biberkopfs Proletenpassion vollzieht. Fassbinder selber sprach – nein spricht, denn der Film behauptet sich durch Gegenwart – die Monologe eines Mitleidenden, der naiv vorwarnend oder melancholisch gestimmt Kommentare, Bekenntnisse. Hinweise auf Rätsel aus Licht und Ton in die Handlung einstreut. Diese innere Stimme erzählt vor allem, daß diese Figuren, die vor dem Ladenschild der allegorischen Stadtlandschaft "Enfer et ses fils, Im- und Export" (Hölle & Söhne) sich abstrampeln, auch durch epische Liebe nicht zu retten sind.

Vielleicht ist diese Melancholie nur eine Zärtlichkeit, die sich von den Figuren noch im Elend nicht trennen mag. Das bindet die Sympathie der Zuschauer, die "Berlin Alexanderplatz" hier miterlebten, in einen Rhythmus ein, als sei das Kino eines ihrer Lebensmittel. Mancher schloß die Augen, dann gingen die Ohren noch weiter auf und bildeten im Imaginären über den Ton mehr Räume ab, als ein Bild zeigen kann. Die Grenze von Traum und Trance wurde gestreift. Noch unter geschlossenem Lid war ein Schnitt, ein Ortswechsel im Bild zu spüren, vorausgesetzt, das Auge folgte dem leisesten Lichtwechsel und Wink von der Leinwand.

Die Augen wollten sich nicht allezeit schließen oder offen stehen, sie wollten in einer Nacht den Einstellungswechsel in der Wahrnehmung üben. Die Stimme von Barbara Sukowa ("Mieze"), die um drei Uhr früh ihren ersten Auftritt hatte, die Gesten des Günther Lamprecht ("Biberkopf") begannen ein Eigenleben und nahmen im Saal selber als Vertraute Platz.

Ihr Behauptungskampf kennt viele Übergänge vom Hellsinn zur Dumpfheit. Biberkopf vor allen ist, vom Augenblick als er das Gefängnis Tegel verläßt, um in die Freiheit, bei "Hölle & Söhne" einzutreten, ein überdimensionierter Stimmenimitator, der alle Formen der Empfindung, des Bewußtseins durchläuft und diese in viele Formen faßt. Sein Leid des Umhergetriebenen ist auch, im Zerstreuungszwang der Großstadt zu keinem eigenen Ausdruck zu finden.

Biberkopf ist ein Sprachrohr des Schutts an Regeln vom richtigen, d. h. gerichteten Verhalten, der seiner Körpermasse eingetrichtert wurde. Die Bibel, das Militär, deutsches Sangesgut und Halbweltjargon bilden den Grund, auf dem der Schauspieler Lamprecht ganz virtuos schlittert, als sei jeder seiner Schritte ein vermiedener Fall ins allgemeine Unglück. Das ist auch Fassbinders Grund, aus Döblins Stoff sein Epos zu entfalten: die ungeheure Fülle konkurrierender, aber sich vernichtender Ausdrucksformen von Alltag in einem Film zu fassen.

Jeder Serienteil, für sich genommen, erhielte einen fremden Augen- und Zungenschlag. Die Gewalt, die das Ganze gefügt erhält, speist sich aus Fassbinders utopischem Wunsch, den erlittenen Schmerz im Verband der Form zu stillen. Mag die Wunde heilen oder nicht, der Verband muß sie verdecken. "Berlin Alexanderplatz" ist – vom Liegestuhl aus als Tag- und Nachttraum gesehen – eine Vision des Versehrten, das durch nicht endende Geduld und Sympathie zu lindern wäre. Das vielleicht meinte Döblin, wenn er den Juden eingangs Biberkopf trösten läßt mit dem Satz, man müsse die Welt sehen können. Und zu ihr hingehen, wo sie sichtbar wird.

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