Land im Wachkoma. Bilder von Arbeit, Identität und Überlebensstrategien

Es sind Werke wie in Hans-Christian Schmids "Lichter", die das Land und seine Gegenwart von den Rändern her sondieren, aus denen das aktuelle deutsche Kino seine Stärke bezieht. Doch es geht nicht nur um äußere, sondern auch um innere Systemwechsel. In den Zeiten großer Pleiten, schnell wechselnder Jobs und glamourös überzogener Konten werden die Protagonisten nach ihrer Bindungsfähigkeit befragt und in ihrer psychosozialen Vernetzung nach Bruchstellen abgeklopft.

 

Identität scheint dabei eine Frage des Namenschilds, der Kreditkarte oder anderer Datenträger zu sein. Sie lässt sich klauen wie in Sören Voigts "Identity Kills" (2003), unter Verschluss halten wie in Franziska Meletzkys "Nachbarinnen" (2004), in der eine verbitterte Paketbotin eine von der Polizei gesuchte Russin länger als nötig verschwinden lässt. Und sie lässt sich vortäuschen wie in Eoin Moores "Pigs Will Fly" (2002), dem Drama eines Zwangsneurotikers, in dem Laxe, der charmante Schlacks, nicht gegen Laxe, den brutalen Schläger, ankommt.

Quelle: Piffl, DIF
"Pigs will fly" (2002)
 

Überhaupt wimmelt es im gegenwärtigen deutschen Film nur so von verwunschenen, somnambulen Figuren. Sie sind traurige Reflektoren einer Gegenwart der Ich-AGs und Akquisiteure, die im Wachkoma die äußere Betriebsamkeit an sich vorbeiziehen lassen, bis ihnen die eigene Bedeutungslosigkeit zur Gewissheit wird. Arbeit ist schon lange kein Therapeutikum mehr. Im Gegenteil: Die Produktionen der letzten Jahre enttarnen den bürgerlichen Arbeitsbegriff, nach dem die entlohnte Tätigkeit den Selbstwert grundiert, nicht selten als kolossales Demütigungsprogramm. So wie in "Der Wald vor lauter Bäumen" (2003), in dem Maren Ade von einer jungen Lehrerin erzählt, die nach rührendem Engagement an den Anforderungen des Berufs und privater Isolation zerbricht: die Geschichte einer tragisch gescheiterten Assimilation. Interessanterweise hat aber auch die routinierte Geschäftigkeit in vielen jüngeren Filmen etwas hochgradig Beängstigendes. Nicht der freundliche Würstchenverkäufer ("Nachbarinnen"), nicht das kompetente Personal der Boutiquen ("Identity Kills") oder der zugewandte Lehrerkollege ("Der Wald vor lauter Bäumen") ist gruselig – aber die Regungslosigkeit, mit der sie alle in den Terrarien ihrer Werktätigkeit funktionieren, verstört die Hauptakteurinnen zutiefst. Für sie bleibt diese Normalität die Ausnahme, kranke Überlebensstrategien wie Über-Assimilation oder Identitätenraub sind die Regel.

Quelle: Exit Filmverleih
"Science Fiction" (2003)
 

Ähnlich geht es den Opfern des Arbeitsmarktes. Die Verlierer des Neoliberalismus gibt vor allem Franz Müllers "Science Fiction" (2003) zur Besichtigung frei. In kostspieligen Seminaren werden sie für einen Markt gecoacht, der sie nicht mehr braucht. Ein seltsames Zirkeltraining aus Demütigungen und Ermutigung, das sie glauben machen soll, dass Ich-AGs etwas mit selbstbestimmter Arbeit, plötzlichem unternehmerischem Genie zu tun hätten. Und dass sie mitspielen dürften in einer Wirtschaft, die sie zuvor bereits aussortiert hatte. Wackeres Kompensieren von Verlusten und Kränkungen wird zur kläglichen Geschäftsgrundlage. Auch Dominik Graf lotet in "Hotte im Paradies" (2003) letztendlich die Existenznöte eines Kleinunternehmers aus; eines Zuhälters, dessen Selbstwert sich nach Sportwagen, Rolex und den Erträgen seines launischen Personals bemisst. Auch die Ich-AG Hotte versucht sich unter Einsatz der ganzen, mühselig hochgetuneten Persönlichkeit im gewählten Wirtschaftssegment zu behaupten – und wird zum Prototypen des neoliberalen Havaristen.

 

Quelle: Christian Buß, Birgit Glombitza (Red.): "Deutschland, revisited". (Katalog zur gleichnamigen Retrospektive im Kommunalen Kino Metropolis Mai - Juli 2004). Hamburg: Kinemathek Hamburg e.V., 2004.Für die Reihe "Deutschland, revisited", die von Mai bis Juli 2004 im Hamburger Metropolis- Kino lief, stellten die Journalisten Birgit Glombitza und Christian Buß 22 deutsche Kino- und Fernsehwerke aus den letzten fünf Jahren zusammen. Der Text stammt aus dem dazugehörigen Katalog. Er soll als Navigationshilfe durch eine Filmlandschaft dienen, die stilistisch und inhaltlich oft unübersichtlich ist, deren unterschiedliche Akteure aber allesamt ein untrügliches Gespür für die Phänomene der Gegenwart beweisen.