Filmgeschichte als Kinogeschichte

Quelle: DIF
Fluchtpunkt Leinwand: ein klassischer Kinosaal
 

Die Geschichte des Films ist nicht nur eine Geschichte von Stars und Studios – sie handelt nicht allein von Filmschaffenden, ihren Werken und den jeweiligen historischen Kontexten. Von den Anfängen bis heute ist die Filmerfahrung in besonderer Weise an die Erfahrung des Kinos gebunden, an Bauten, Foyers, Säle, Sitzordnungen, Technik und die Gegenwart des Publikums. Filmgeschichte ist auch Kinogeschichte, und die Erinnerung an Filme blickt immer wieder in jene Räume zurück, in denen wir den Filmen begegneten.

 

Das erste Löschen des Saallichts

Das Kino feierte 2005 seinen 110. Geburtstag. Am 1. November 1895 fand im Berliner Wintergarten, einer seit 1888 bestehenden Varieté-Bühne in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße, eine Vorführung elektrisch bewegter Bilder statt. Mit Hilfe seines Doppelprojektors "Bioskop" zeigte Max Skladanowsky "Lebende Photographien" als Schlussnummer des Varieté-Programms. 15 Minuten dauert die Vorführung und präsentierte u.a. Abteilungen wie "Italienischer Bauerntanz", "Acrobatisches Potpourri" und "Das boxende Känguruh". "Irritiert soll das Premierenpublikum auf das Löschen des Saallichtes reagiert haben", so der Filmhistoriker Wolfgang Jacobsen, "aber jede einzelne Szene entpuppt sich dann als 'Attraktion' einer geschickt komponierten, der Varieté-Dramarturgie verpflichteten Programmfolge, die in der Apotheose ihrer 'Macher' gipfelt, der Verbeugung der Brüder Skladanowsky."

Quelle: www.wochenschau-archiv.de
Max und Emil Skladanowsky in ihrer "Apotheose" des Wintergartenprogramms aus dem Jahre 1895
 

Weniger der Inhalt als vielmehr die neue Erlebnisform selbst, die Kino-Erfahrung, wurde zur Attraktion. "Lehrreich und amüsant ist auch die Schlußnummer des Programms, das 'Bioscop'", ist am 5.11.1895 im "Berliner Lokal-Anzeiger" zu lesen: "Nur das Zittern der einzelnen Figuren erinnert an die Zusammensetzung aus vielen kleinen durch Electrizität rasch bewegten Bildchen." Im Gegensatz zum Bioscop der Brüder Max und Emil Skladanowsky sollte sich der "Cinématographe", mit dem die Brüder Louis und Auguste Lumière in Paris am 28. Dezember 1895 erstmals öffentlich eine Reihe kurzer Filme präsentieren, als ausgereifter und zukunftsträchtiger erweisen. 1896 begann der Siegeszug des "Cinematograph" in Deutschland, noch im gleichen Jahr eröffnete der Filmpionier Oskar Messter seinen Projektionssaal Biorama in den Berliner Wilhelmshallen. Doch die Zeit für den Erfolg der ortsfesten Kinos war noch nicht gekommen – erst zehn Jahre später erlebte das Kino als Kientopp oder Kintopp eine wahre Gründungskonjunktur.

Kinopaläste, Rowdys und weiblicher Blick

In den 1910er Jahren – 1913 wurden allein in Berlin bereits 206 Kinos gezählt – begann man größeren Wert auf Komfort und Luxus zu legen. "Spektakuläre Kinopaläste wie das Marmorhaus in Berlin", betont die Filmhistorikerin Sabine Hake, "galten als richtungsweisend für diese Entwicklung. In der Regel lagen diese neuen Kinos in den Stadtzentren, an großen Durchgangsstraßen und im Umkreis von Bahnhöfen und Einkaufsmeilen, und somit versorgten sie so unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen wie Arbeiter, Angestellte und Frauen aus der Mittelschicht bis hin zu Jugendlichen, Handwerkern und Arbeitslosen." Die Kinogeschichte wird gerade am Beispiel der unterschiedlichen Publikumsteile interessant: Jugendliche beispielsweise sollen Mitte der 1910er Jahre nicht selten durch "Rüpeleien halbwüchsiger Burschen" sowie durch die "Spottsucht" dieser "Rowdys" aufgefallen sein, wie 1915 in "Der Kinematograph" beklagt wird.

Quelle: DIF
Das UFA-Theater in der Berliner Turmstraße um 1925
 

Die Filmhistorikerin und -theoretikerin Heide Schlüpmann hat eindrucksvolle Studien zur Perspektive des weiblichen Publikums im frühen Kino vorgelegt. Dabei spielt auch das Verhältnis zwischen Film und Frauenbewegung eine Rolle, deren Aufbruchsphase Ende des 19. Jahrhunderts mit der Entstehungszeit des Kinos zusammenfällt. Der Gang ins Kino bedeutete für Frauen am Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Freiheit – nicht nur, weil das Kino einen für sie ohne Begleitung aufzusuchenden öffentlichen Ort bedeutete, sondern auch durch die dort mögliche intime Körpernähe jenseits der von Männern dominierten Ehe- und Familien-Ordnungen. "Die ersten Erzählfilme", erläutert Heide Schlüpmann, "spiegeln beides: das Interesse der Frauen an Öffentlichkeit und den Reiz der Intimität des Kinoraums. Sie erzählen Geschichten aus der Welt der Dienstmädchen, der Mütter und Ehefrauen, der Prostituierten und Kokotten (...) und schließlich Geschichten, in denen nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form die patriarchale Moral außer Kraft gesetzt wird."

Kampf um die Wirkung

So rasant das Kino, das auch durch die Wochenschauen ein Fenster zur Welt wurde, seinen festen Platz im öffentlichen Leben eroberte, so umstritten war es auch. "Die Reaktion der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit war rigide", kommentiert der Filmhistoriker Jörg Schweinitz die aufkommende Bewegung der sogenannten Kinoreformer: "Bereits 1907 macht eine Kommission Hamburger Lehrer auf moralische und gesundheitliche Gefahren aufmerksam. Es folgen Initiativgruppen (z.B. der von Hermann Häfker 1909 in Dresden gegründete Verein 'Wort und Bild'), die den Kampf gegen die 'Kinoseuche' in zahlreichen deutschen Großstädten führen."

Quelle: Carlo Mierendorff: "Hätte ich das Kino!", Berlin: Erich Reiss Verlag 1920
Titelblatt von Carlo Mierendorffs Schrift "Hätte ich das Kino!"
 

Im Gegensatz zur Haltung der Kinoreformer priesen hingegen andere Stimmen Film und Kino als Fortschritt und Chance. Victor Klemperer betonte schon 1911, "jene Kunstandacht und jener heilige Ernst, den das Publikum hier teils mitbringt, teils ungewollt findet, dürften quantitativ wie qualitativ den Weihestimmungen des gegenwärtigen Theaters überlegen sein". Und Carlo Mierendorffs 1920 erschienene Schrift "Hätte ich das Kino" widersprach mit Verve und Leidenschaft den Anfeindungen der bürgerlichen Reformbewegung. Mierendorff feierte das Kino als "die wildeste Erscheinung" und den elementarsten "Durchbruch des Triebhaften". Doch ganz gleich, wie man zum viel diskutierten Kintopp stehen mochte: Die kulturpessimistische Angst und der erbitterte Kampf der Kinoreformer, die – wie z.B. Dr. Albert Hellwig – eine strenge, reichseinheitliche Filmzensur forderten, zeigen deutlich, mit welcher Macht das Kino zu einer immer bedeutsameren, Massen mobilisierenden Institution anwuchs. 1920 boten in Deutschland 3.422 Kinos ihr Programm an, 1930 waren es über 5.000. Die jährlichen Besucherzahlen stiegen bis 1928 auf 353 Millionen an. Nicht zuletzt die wirtschaftliche Krise ließ sie bis 1932 (238 Millionen) wieder sinken, bevor ab 1933 – das Kino wurde in Nazideutschland zur zentralen Unterhaltungs- und Propagandastätte – die Zahlen wieder kontinuierlich und mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 sprunghaft anstiegen. Im Jahr 1944 wurden über eine Milliarde Kinobesucher gezählt (Hans Helmut Prinzler: Chronik des deutschen Films 1895-1994, S.156)

Wechsel und Brüche der Kinogeschichte

Quelle: Murnau-Stiftung, DIF
Der erste abendfüllende Ufa-Spielfilm in Agfacolor: Aribert Wäscher, Carl Kuhlmann, Marika Rökk (v.l.n.r.) in "Frauen sind doch bessere Diplomaten"
 

Seit seiner Entstehungsphase hat das Kino weitreichende Veränderungen erfahren. Dazu gehören z.B. die Einführung des Tonfilms Ende der 1920er Jahre und der in Deutschland vergleichsweise spät durch die Ufa realisierte Farbfilm: Obschon der Technicolor-Farbfilm in Hollywood bereits seit Mitte der 1930er Jahre erste Erfolge feiern konnte, wurde mit "Frauen sind doch bessere Diplomaten" der erste abendfüllende Ufa-Spielfilm in Agfacolor erst 1941 uraufgeführt. Inzwischen war die Bedeutung des Kinos nicht nur unbestritten – und bestärkt durch die künstlerischen und internationalen Erfolge des deutschen Films der Weimarer Republik – gestiegen: In Nazideutschland wuchs das Kino gar zu einer entscheidenden, staatlich gelenkten Institution. Für den selbsternannten "Filmminister" Goebbels war der Film eines "der wichtigsten Führungsmittel des Volkes". Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wurde der Kinobetrieb trotz der Zerstörung vieler Lichtspielhäuser schon früh wieder aufgenommen, und auch für die Umerziehung der Deutschen nach der Zerschlagung Nazideutschlands war das Kino ein entscheidender Ort. Aus 2.125 Lichtspieltheatern im Jahr 1945 wurden binnen zehn Jahren insgesamt 7.662 – allein 6.239 davon in der Bundesrepublik. Die audiovisuelle Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit, Aufbrüche und Fluchtbewegungen in naheliegende und entfernte Filmwelten bestätigten erneut den Stellenwert des Kinos.

Quelle: DIF
Der Phoebus Palast in der Spielzeit 1949/50
 

Mit der Teilung Deutschlands setzte sich deutsche Kinogeschichte in zwei unterschiedlichen Kapiteln fort, in Ost und West, um erst nach 1989 wieder zu einer zu werden. Dass jedoch weder diese "eine Geschichte" noch alle vorangegangen denkbar sind ohne die Vielzahl individueller, heterogener und durchaus widersprüchlicher Kinoerfahrungen, gehört zum Wesen des Kinos. Die Unterschiede der jeweiligen persönlichen Kinoerlebnisse hängen nicht nur mit den unterschiedlichen Arten der Filmtheater zusammen, deren jeweilige Raum- und Ereignisinszenierung – vom Stadtteil- über das Autokino bis hin zum Multiplex – die Erfahrung des Films prägen. Die Idee des Kinos selbst hat mit Differenz zu tun.

Ein Raum für Gegensätze

Seit jeher ist das Kino ein Raum der Vielfalt und Widersprüche: Ein Ort, in dem Massen zusammenkommen, um im Dunkel eines öffentlichen Raums als versammelte Individuen jeweils sehr private Erfahrungen zu machen. François Truffaut hat seine frühe Kinofaszination – die "Verheißung von Vergnügen, eine Vorstellung von Steigerung, die der Bewegung des Lebens zuwiderläuft" – als Überwindung von Distanz und als Verlust der Gemeinschaft beschrieben: ”Ich verspürte ein großes Verlangen, in die Filme einzudringen, und das gelang mir, indem ich immer näher an die Leinwand heranrückte und so den Zuschauerraum hinter mir versinken ließ.”

Quelle: Anna Brenken: "Medienfabrik Zeisehallen", Hamburg: Ellert und Richter 1993
Medien-Fabrik Zeisehallen, Hamburg-Ottensen
 

Es scheint, als sei das Besondere, das Faszinierende des Kinos eng daran gekoppelt, dass hier eben nur zum Teil von einem "öffentlichen Raum" gesprochen werden kann. "Der exzeptionelle Charakter des Kinos", hat Heide Schlüpmann betont, "besteht in der Mischung von Öffentlichkeit und privatem und intimen Raum – von einer anderen Art 'Theater' und einer anderen Art 'Häuslichkeit'". Mit dem Betreten des Kinos beginnt die je eigene Erfahrung des Besuchers und der Besucherin. Und mit jedem Löschen des Saallichtes setzen sich zahllose private und doch in der Gemeinschaft erfahrene Kinogeschichten fort, ohne die die Geschichte des Kino nicht erzählt werden kann.